Wie sehr verantwortet der Geist das Leid?

Das Wichtigste in Kürze

Der allumfassende Geist muss auch Leid und Elend miterleiden und dürfte somit prinzipiell nach dem Guten streben. Und obwohl er nicht allmächtig ist, lässt sich die Verantwortung für das Böse in unserer Welt nicht rein auf das seelenlose Prinzip von Ursache und Wirkung abschieben. Der Geist trägt mit Verantwortung, denn er hat diesen ganzen Prozess von Leben und somit von Tod, Leid und Elend angestoßen. Aber eine absolut heile Welt, wäre auch eine langweilige Welt ohne Gegensätze, eine Welt ohne das herausragend Gute.


Eher gut, aber deshalb gleich absolut gut?

Im Beitrag „Ist der allumfassende Geist nun gut oder allmächtig?“ habe ich aufgezeigt, dass ein alles umfassender und mitfühlender Geist zwangsläufig dem Guten zustrebt, er andererseits aber sicher nicht allmächtig sein kann. Wir könnten es uns nun einfach machen und sagen, der allumfassende Geist steht für das absolut Gute, alles Böse stammt aus der materiellen Welt von Ursache und Wirkung. Alles Leid entsteht aufgrund des rücksichtslosen und gefühllosen Ablaufens deterministischer Prozesse. Wenn ich mich einem herabfallenden Fels in den Weg stelle, wird er mich erschlagen. Daran kann auch der wohlwollendste Geist aus der Quantenwelt nichts ändern. Und es ist leider wahr, es gibt im Leben Situationen, da könnte uns nur ein Wunder vor Leid und Elend bewahren, da alle Optionen, die im Einklang mit den Naturgesetzen stehen, zwangsläufig zu Verletzungen führen. Doch ganz so leicht kann sich der allumfassende Geist nicht aus der Verantwortung stehlen.

Wer trägt die Verantwortung für das Böse?

Ein Weltbild, in dem das absolut Gute geistig ist und das Fleisch, also die physische Welt mit ihrem gnadenlosen Darwinismus als Gegenprinzip das Böse ist, gab es bereits im Mittelalter. Die sogenannten Gnostiker gingen von einem vollkommenen, allumfassenden Gott aus und von einem weniger vollkommenen, physischen Weltenschöpfer, den Demiurg, der das All mit all seinen negativen Seiten geschaffen hat. Einige Gnostiker gingen dabei so weit, die gesamte materielle Welt und somit auch den menschlichen Körper dem Bösen zuzuordnen. Doch wenn wir an den Beitrag „Gibt es einen allumfassenden Geist?“ zurückdenken, so lehren uns sowohl die Quantenphysiker als auch die Weltreligionen, dass alles mit allem verbunden ist. Eine so strikte Trennung von Geist und physischer Welt entspricht nicht diesem Prinzip. Irgendwie scheint also die Wurzel allen Übels doch auch zu einem gewissen Maß dem Geist innezuwohnen.

Schöpfungsprinzip der Gegensätze

Eigentlich hatten die Gnostiker es schon ganz richtig erkannt, unser Universum existiert nur aufgrund der Gegensätze. Ohne Gegensätze wäre alles ein fühlloser Einheitsbrei. Ohne Licht kein Schatten, ohne Oben kein Unten und ohne Heiß kein Kalt. Die chinesische Philosophie bezeichnet dieses Prinzip als Yin und Yang, Und dieses Prinzip ist nicht nur auf unsere erlebbare Welt beschränkt. Auch im Allerkleinsten, beim Entstehen von Elementarteilchen bildet sich stets ein gegensätzliches Teilchenpaar aus, zu jedem Teilchen gibt es ein entsprechendes Antiteilchen. Kommen sie zusammen, löschen sie sich gegenseitig aus. Und selbst in kosmischen Dimensionen gibt es diese Gegensätze. So ist der Kosmos nicht nur von hell strahlenden Sternen erfüllt, sondern auch von finsteren Antisternen, den schwarzen Löchern, die alles Licht absorbieren. Das besondere an diesen Gegensätzen ist, dass sie trotz ihrer Verschiedenheit von gleicher Natur sind. Sie können sich gegenseitig auslöschen oder ineinander übergehen. Nur ein besonders hell strahlender Stern kann, wenn er  kollabiert, zu einem schwarzen Loch werden. Doch ein absolut guter Geist hat keine Verwandtschaft mit absolut böser Materie.

Es gibt keine böse Materie

Determinismen unbeseelter Materie können nicht böse sein. Sie laufen einfach ab, egal welche Folgen sie haben. Eine einmal abgefeuerte Kugel zerstört ihr Ziel, egal ob dies dazu dient, einen Terroristen die Waffe aus der Hand zu schießen und so Leben zu retten oder um eine wehrlose Geisel zu ermorden. Gut und Böse, Freud und Leid entstehen erst durch die bewusste Betrachtung seitens eines fühlenden Geistes. Erst die Intention des Täters in Kombination mit der empfundenen Auswirkung auf fühlende Wesen entscheiden darüber, ob eine Tat gut oder böse ist. Das Zerstören eines unbelebten Gegenstandes ist somit erst einmal keine böse Tat. Erst wenn diese Zerstörung von einem Mensch oder Tier als Verlust, Frevel oder Beeinträchtigung seines Wohles wahrgenommen wird, wird die Tat zu etwas Negativen. Umgekehrt kann so manch gut gemeinte Handlung unbeabsichtigt anderen maßloses Leid zufügen und somit als böse empfunden werden. Doch wie kann etwas böse sein, dessen Intention eigentlich war gut? Und wie kann etwas gut oder böse sein, dem überhaupt keine Intention zugrunde liegt?

Erst das Leben brachte das Leid

Wenn nun der allumfassende Geist der Urgrund aller Materie ist, wieso hat er überhaupt diese grausame Maschinerie von Leid und Elend angestoßen? Hätte es nicht genügt, nach dem schönen Feuerwerk des Urknalls den Rest einfach der Entropie zu überlassen und entspannt dabei zuzusehen, wie sich alles gleichmäßig im All verteilt? Niemandem wäre dabei irgendein Leid zugefügt worden. Zugegeben, es ist schon beeindruckend, dass sich entgegen aller Naturgesetze aus dem Nichts Materie gebildet hat und sich daraus anstatt der zu erwartenden Gleichverteilung Ordnung und Struktur entwickelt haben. Bis dahin wäre ja alles kein Problem gewesen, doch was hat den schöpferischen Geist dazu getrieben, diese Materie mit beseeltem Leben zu erfüllen? Hätten es nicht auch seelenlose Bioautomaten getan, die wie Roboter seine Schöpfung erfüllt hätten? Aber nein, es musste ja unbedingt beseeltes Leben sein, denn erst damit kamen Tod, Leid und Elend in diese Welt.

Warum müssen wir den Igel anfassen?

Um das zu verstehen, möchte ich noch einmal das Beispiel mit dem Igel ins Gedächtnis rufen. Wenn wir das stachelige Kerlchen mit bloßen Händen hochnehmen wollen, sind wir bemüht, unseren Fingern so wenig Leid wie nur möglich zuzufügen; also versuchen wir den Schmerz gleichmäßig auf alle Finger zu verteilen. Die Intention ist möglichst wenig Schmerz und Leid, doch was in Gottes Namen zwingt uns überhaupt dazu, den Igel anzufassen? Würden wir ihn nicht anfassen, gäbe es überhaupt keinen Schmerz, kein Leid. Und es ist selten reine Fürsorge für das Tier, sondern oft nur Lust und Neugierde, die uns zu diesem schmerzhaften Handeln treiben. Selber schuld werden Sie sagen. Und genauso schuld könnte auch der schöpferische Geist an der Existenz des Bösen sein. Denn wozu hat er überhaupt das Leben in die Welt gesetzt, wo doch erst dadurch Leid, Elend und somit das Böse entstanden sind? Tote Materie kennt kein Leid, keinen Schmerz, keine Angst und keinen Tod. Wozu Materie und Leben erschaffen, wenn sich der allumfassende Geist damit nur selbst quält? Könnte es nicht ähnlich sein, wie bei unserem Igel? Wäre es nicht denkbar, dass auch den schöpferischen Geist so völlig irrationale Bedürfnisse, wie Langeweile und Lust auf Neues, zur Erschaffung einer belebten Welt getrieben haben?

Wie erstrebenswert ist eine perfekte Welt?

Doch was schließen wir daraus? Ist böse und gemein sein vielleicht gar im Sinn des Schöpfers? – Das vielleicht nicht gerade, aber wo es kein Böse, keine Gefahr, kein Leid gibt, gibt es auch keine Helden. Es ist ein wenig wie in den Alpen, ohne Täler keine Berge, nur durch die Gegensätze wird das Herausragende herausragend. Superhelden brauchen Superschurken und in einer perfekten Welt wäre Mutter Theresa nichts weiter als eine nette alte Dame ohne rechte Aufgabe gewesen. Erst die Extreme und das Böse bringen den wirklichen Charakter eines Menschen an den Tag. Erst im Krieg wurden unsere Väter und Großväter zu Helden oder zu Kriegsverbrechern. Unsere Generation des Friedens bewegt sich in einer wohltemperierten Komfortzone der Unwissenheit. Wir wissen nicht, wer wir wirklich sind, was tatsächlich in uns schlummert, ob wir in Wahrheit Helden oder Bestien sind. Das wahrhaft Gute braucht das Böse, denn erst durch das Böse wird es überhaupt sichtbar.

Nicht umsonst tun wir uns so schwer mit Utopien von einer heilen Welt, einer Welt in der alle gleichgeschaltet sind, einer Welt in der kein Platz für individuelle Schwächen ist. Nun würde ich niemandem empfehlen, böse zu sein, damit die Guten eine Aufgabe haben, aber vielleicht sollten wir uns ja an die zehn Gebote des Billy Wilder halten von denen neun lauten: „Du sollst nicht langweilen.“ Wagen Sie doch einmal das ketzerische Experiment und stellen Sie sich vor, Sie sind der alles umfassende, mitfühlende Geist; wem würden Sie lieber innewohnen, einem Buchhalter oder einem Abenteurer? Zumindest ich habe für meinen Teil beschlossen, zwar so wenig Leid wie möglich zu verbreiten, aber gleichzeitig den Geist der mir innewohnt nicht zu langweilen. Oder um es ein wenig biblischer zu formulieren:

Du sollst Gott nicht langweilen!

Klar bin ich mir bewusst, dass dieser Gedanke nach reiner Ketzerei und unzulässigem Anthropomorphismus klingt, doch diese Begründung würde nicht nur erklären, warum eine physikalische Welt existiert, sie hätte zusätzlich auch den Charme, dass damit ein weiteres Rätsel beantwortet wäre; nämlich „Wieso gibt es die Getrenntheit?“.

Ein Gedanke zu „Wie sehr verantwortet der Geist das Leid?“

  1. Wir erzahlen uns selbst Geschichten daruber, wie schlimm jemand anderes ist und das macht es fur uns ganz normal, ihn zu hassen. Selbstverstandlich wurde man jemanden, der einem so etwas angetan hat, hassen zumindest wenn man nicht nahezu ubermenschliche Fahigkeiten entwickelt hat.

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