Das Wichtigste in Kürze
Schmerz und Leid verhindern Verletzungen und bieten einen evolutionären Vorteil. Nur bewusst empfundener Schmerz ermöglicht es uns intelligent auf seine Ursachen zu reagieren. Schmerz und Leid müssen intensivere Gefühle sein, als Wohlgefühl und Freude, sonst würden wir sie ignorieren. Selbstmord ist ein fehlgeleiteter Fluchtinstinkt aus einer gefühlt ausweglosen Situation. Schmerz und Leid verschaffen uns einen evolutionären Vorteil, der keine göttliche Ursache als Erklärung benötigt. Doch gerade in Momenten von größten Schmerz und Leid ist der mitfühlende göttliche Geist ganz bei uns.
Die gemeinste Erfindung der Schöpfung
Schmerz und Leid sind wohl die rätselhaftesten Eigenschaften der belebten Natur. Wie oft fragen wir uns, warum wir und unsere Mitgeschöpfe leiden müssen. Leiden ist dabei nicht nur physischer Natur sondern oft viel schlimmer noch das Leid, das bewusst oder unbewusst unseren Seelen angetan wird. Ein Leid, das Menschen erschreckend häufig soweit treibt, entgegen aller Überlebensinstinkte ihrem Leben ein Ende zu setzen. Laut WHO waren 2014 in wohlhabenden Ländern Suizide in der Altersgruppe zwischen 15 und 29 Jahren die häufigste Todesursache. Das ist besonders erschreckend, wenn man aus der Warte eines fortgeschrittenen Lebensalters neidvoll auf genau diese Altersgruppe blickt. Wenn es tatsächlich einen göttlichen Schöpfer gibt, warum hat er sich so etwas Gemeines wie tobende Schmerzen, panische Angst und tiefe Trauer einfallen lassen?
Schmerz ist unser wichtigstes Gefühl
Um hierauf eine Antwort zu finden, werfen wir einen Blick auf die Urform des Leids, den Schmerz. Was wäre, wenn wir keinen Schmerz empfinden? Die Antwort darauf gibt die Krankheit Lepra. Allgemein ist sie als schrecklicher Aussatz bekannt, der unbehandelt zu Wundfäule bis hin zum Verlust von Gliedmaßen führt. Doch eigentlich ist Lepra lediglich eine Haut- und Nervenkrankheit die zu hässlichen Hautflecken und zu Schmerzunempfindlichkeit führt. Die Verstümmelungen kommen daher, dass durch das fehlende Schmerzempfinden unbemerkt Verletzungen auftreten, insbesondere Verbrennungen. Da der Erkrankte von alldem nichts spürt, bleiben die Verletzungen oft unbehandelt, was dann zu den schrecklichen Entzündungen führt. Deshalb ist Schmerz eine unserer wichtigsten Empfindungen. Lebewesen, die keinen Schmerz empfinden, sterben früher und werden daher durch die natürliche Selektion aussortiert. Die Empfindung Schmerz lässt sich somit rein mit evolutionären Vorteilen erklären.
Wir wollen bewusst auf Schmerz reagieren
Doch ist das wirklich nötig? Maschinen spüren keinen Schmerz, doch wir können sie mit Sensoren ausrüsten, die sie vor Schäden bewahren und damit fahren sie recht gut. Warum kann sich Schmerz nicht auch als eine deutliche aber eben erträgliche Information beschränken? Warum muss Schmerz bewusst sein? Warum ist das nicht einfach eine Empfindung, die rein unterbewusst wahrgenommen wird und auf die wir automatisch reagieren ohne dabei leiden zu müssen? Das wäre so etwas wie ein Fahrerassistenzsystem, das im Zweifelsfall die Steuerung unseres Autos übernimmt. Wenn der Ölstand zu niedrig ist, wird das Auto an den Rand gefahren und fährt erst weiter, nachdem wir Öl nachgefüllt haben. Wenn Glatteis droht, wird unsere Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h gedrosselt. Wenn beim Einparken der Abstand zum Hintermann geringer als 10 cm ist, startet der Einparkassistent überhaupt keinen Einparkversuch, auch wenn in dem Viertel kein Parkplatz groß genug ist, um diesen Sicherheitsabstand einzuhalten. Rasch müssen wir zugeben, dass wir so etwas nicht wollen. Wenn uns das System einen Hinweis gibt, ist das okay, doch die Entscheidung wollen wir dann schon selbst treffen, denn wir sind nun einmal bewusste Lebewesen, die Herr im eigenen Haus sein wollen. Und genauso läuft es beim Schmerz. Der Schmerz ist nur der Hinweis an unser Bewusstsein. Wir entscheiden selbst, ob wir die heiße Tasse loslassen oder nicht. Ist die Tasse über der Spüle, lassen wir unserem Impuls freien Lauf, ist sie über einer wertvollen Briefmarkensammlung, beißen wir die Zähne vielleicht doch noch etwas zusammen. Und auch hier ist die treibende Kraft wieder mal ein evolutionärer Vorteil.
Nur der Clevere überlebt
Stellen Sie sich drei Steinzeitjäger vor. Der eine ist ein harter Kerl. Wenn er sich einen Stein eintritt ignoriert er einfach den Schmerz. Der zweite ist ein Weichei und bleibt egal in welcher Situation stehen und entfernt den Stein aus seiner Fußsohle und der dritte ist der Clevere und entscheidet abhängig von der Situation, wie er handelt. Alle drei toben im Spiel herum und treten sich Steine ein. Das Weichei und der Clevere bleiben stehen und entfernen den Stein, der harte Kerl läuft weiter. Am nächsten Tag hat der harte Kerl einen entzündeten Fuß. Nun will es das Schicksal, dass die drei von einem Rudel Wölfe verfolgt werden. Der harte Kerl ist am langsamsten weil sein Fuß entzündet ist und wird leider gefressen. Der Clevere und das Weichei freuen sich und fliehen, bis sich beide wieder einen Stein eintreten. Wer von den beiden wird wohl als nächster gefressen?
Es muss eine laute Sirene sein
So einfach ist das mit dem evolutionären Vorteil. Deshalb ist für den bewussten Schmerz das „böse“ deterministische Prinzip verantwortlich und nicht der „liebe“ Gott. Dennoch stellt sich die Frage, warum Schmerz dann so verdammt weh tun muss? Uns genügt ja auch ein blinkendes Warnlicht, um mit dem Auto an den Rand zu fahren, es muss nicht gleich eine ohrenbetäubende Sirene losheulen. Doch betrachten wir einmal die Fülle an Wahrnehmungen die unsere Sinne Sekunde für Sekunde an unser Gehirn liefern. Wenn wir nicht einschlafen können, fällt uns das erst so richtig auf. Dann drückt die Blase obwohl wir gerade von der Toilette kommen, die Bettdecke ist zu warm, das leise Tropfen des Wasserhahns nervt, der Mund ist zu trocken, das linke Nasenloch verstopft, der Pyjama kratzig, der Mückenstich juckt unerträglich und die Matratze ist viel zu hart. Es ist ganz so, als würden wir in einem Auto sitzen in dem an allen möglichen Ecken und Enden bunte Lämpchen blinken und es überall piepst und pfeift. In so einem Chaos hilft uns ein dezent blinkendendes Warnlicht überhaupt nichts. Es ist nun mal so, dass ständig Impulse aus unserer Umwelt, aus unserem Körper und aus unserem Gehirn um die Aufmerksamkeit unseres Bewusstseins buhlen. Da hilft kein leichtes Kribbeln wenn die Tasse heiß ist, da muss eben zur lauten Sirene Schmerz gegriffen werden.
Sorgen bringen uns durch den Winter
Gleiches gilt für Kummer und Sorgen. Dabei geht es meist um Themen denen wir lieber aus dem Weg gehen. Was kümmert uns der Kontostand, solange der Geldautomat noch etwas ausspuckt. Genießen wir das Leben, machen wir Party und gönnen wir uns etwas. Doch dank unserer Sorgen um den nächsten Tag und unsere Zukunft können wir vorausschauend planen und Dinge tun, die uns zwar keinen Spaß im Hier und Jetzt bringen, aber dafür sorgen, dass wir auch in Zukunft noch da sind um Spaß zu haben. Nichts anderes hat die Jäger und Sammler dazu gebracht, Vorräte für den Winter anzulegen. Wer das nicht getan hat, dessen Chancen standen schlecht auch im nächsten Jahr noch sein Erbgut weiterzugeben. Nun sind Spaß und Freude verdammt intensive Gefühle, da müssen eben Kummer und Sorgen einfach noch etwas intensiver sein, damit wir sie nicht ignorieren.
Ohne Rudel droht der Tod
Doch wie erklären wir uns evolutionär das Phänomen des Selbstmords. Warum können uns Kummer und Sorgen umbringen? Das macht doch aus evolutionärer Sicht keinen Sinn! Oder etwa doch? Wenn ein Steinzeitmensch in einer Situation war, die für ihn gefährlich oder bedrohlich war, dann galt es entweder anzugreifen oder zu fliehen. Doch wohin sollen wir fliehen, wenn die Bedrohung, die Angst nicht nachlässt? Wenn dieses Gefühl für uns allgegenwärtig und gleichermaßen nicht greifbar ist? Die Panik zu versagen, gemobbt zu werden, unsere Schulden nicht mehr bedienen zu können ist stets auch eine Angst davor, nicht mehr zur Gemeinschaft zu gehören. Und so zivilisiert wir uns auch geben mögen, genetisch sind wir nahezu identisch mit einem Urmensch. Und damals galt, wer nicht mehr Teil des Rudels war, war dem Untergang geweiht.
Flucht an einen Ort ohne Angst
Und diese Angst ausgestoßen zu sein ist riesig. Im Altertum zählte die Verbannung zu den härtesten Strafen. Wo gibt es einen Ort, an dem uns keine Ängste mehr verfolgen? Wohin sollen wir fliehen, wenn der Feind in unserem Kopf sitzt? Und hier erscheint die Flucht ins Nichts, in die Fühllosigkeit des Todes plötzlich als einzige Alternative. Nicht umsonst heißt es: „Er hat keinen anderen Ausweg mehr gesehen?“ Letztendlich haben wir es beim Selbstmord also mit einem fehlgeleiteten Fluchtinstinkt zu tun. Das ist nichts anderes als ein Mensch, der auf der Flucht vor den Flammen aus einem brennenden Hochhaus in den sicheren Tod springt. Die Selbstmordstatistik unter Jugendlichen liefert ein bitteres Bild über den Zustand unserer Gesellschaft. Statt unseren Nachwuchs aufzufangen, ihm einen Sinn zu geben zerbrechen immer öfter die familiären Strukturen, der Freundeskreis löst sich mit Beginn der Ausbildung auf und der Druck, rasch Leistung zu bringen, steigt von Jahr zu Jahr. Der Steinzeitmensch in uns sieht kein Rudel mehr, das uns schützt, das uns über schwierige Zeiten hinweg trägt. Und plötzlich beginnt die Suche nach einem Ausweg, nach einer Fluchtmöglichkeit. Das Beispiel von dem Mensch, der aus Angst vor den Flammen in den Tod springt, zeigt hierbei auf, wie groß die subjektiv empfundene Not sein muss, damit ein Jugendlicher entgegen seines evolutionären Selbsterhaltungstriebs seinem Leben ein Ende bereitet.
Ausgestoßen aber nie allein
Besonders perfide empfinde ich in diesem Zusammenhang die mittelalterliche Strategie der Kirche, dem Selbstmörder auch noch im Jenseits durch Höllenqualen und Ausstoß aus der Gemeinschaft über den Tod hinaus jegliche Fluchtmöglichkeit zu nehmen. Und wo finden wir bei all dem den mitfühlenden Geist? Genau da, wo das bewusste Gefühl ist. Unser Geist, der Teil des allumfassenden Geists ist, ist erfüllt von all den Gefühlen, die wir in diesen schrecklichen Momenten erleben: Schmerz, Leid, Angst und Panik. Von daher können wir wohl sagen, egal wie ausgestoßen wir uns fühlen, egal wie viel Leid wir empfinden, wir sind nicht allein, denn der Geist, der uns in die Lage versetzt, Gefühle, Freude und Liebe zu empfinden, ist in so einer Situation ganz bei uns, fühlt genauso intensiv mit uns (siehe „Wie real ist unser Geist?“ ). Und je intensiver das Gefühl ist, desto stärker ist der mitfühlende Geist bei uns, in uns. Es macht keinen Sinn, diesen Geist für unser Leid zu verfluchen, er ist nicht dafür verantwortlich, dass die Evolution genau diese Facette unserer Gefühlsmöglichkeiten zur Arterhaltung nutzt (siehe „Ist der allumfassende Geist nun gut oder allmächtig?“). Vielmehr sollte es uns trösten, dass der mitfühlende Geist derjenige ist, der in der Stunde unserer größten Not stets bei uns ist, uns nie verlässt, uns nie aufgibt.