Das Wichtigste in Kürze
Nur das Individuum ist sich seines Bewusstseins sicher. Mit Hilfe von sieben Bewertungskriterien lässt sich jedoch ermitteln, ob ein Wesen über eigenes Bewusstsein verfügt. Das ist bei menschlichen Gemeinschaften tatsächlich der Fall, aber auch unsere Biosphäre wehrt sich höchst selbstbewusst gegen die Zivilisation.
Die Suche nach einem Bewusstsein des Universums konfrontiert uns zwangsläufig mit der Frage, ob es überhaupt höhere Bewusstseinsebenen als die unsrige geben kann.
Eine intelligente Erde
Die wohl berühmteste Theorie diesbezüglich stammt vom Geochemiker James Lovelock, der vor knapp 50 Jahren seine umstrittene Gaia-Hypothese aufgestellt hat, die dem Ökosystem der Erde ein aktives, logisches Handeln zugeschreibt. Hintergrund war, dass er nach Analyse von Langzeitstudien festgestellte, dass das irdische Ökosystem aktiv auf Einflüsse von außen reagiert und dadurch erfolgreich das globale Klima beeinflusst. In einem berühmten Gedankenexperiment stellte er sich den Planeten Daisyworld vor, auf dem weiße und schwarze Blumen wachsen. Die weißen Blumen bevorzugen warmes Klima, die schwarzen kühles Klima. Wenn nun die Sonne sehr stark scheint, blühen die weißen Blumen auf, die schwarzen verdorren. Doch je mehr weiße Blumen blühen, desto mehr Sonnenlicht wird wieder ins All reflektiert, die Erde kühlt aus und die schwarzen Blumen kehren zurück. Gleiches gilt für kühles Klima, es blühen immer mehr schwarze Blumen, die die Strahlung absorbieren und die Erde erwärmt sich wieder. Letztendlich pendelt sich durch die wechselnde Population von schwarzen und weißen Blumen ein klimatisches Gleichgewicht trotz schwankender äußerer Einflüsse ein. Er selbst ging zwar dabei nicht so weit, der Erde ein bewusstes Handeln zu unterstellen – Daisyworld läuft hervorragend als Computerprogramm und benötigt beileibe kein Bewusstsein – aber seine Hypothese fand viele Anhänger, die seine Theorie als Beleg für ein Bewusstsein unseres Planeten ansehen.
Ich-Bewusstsein oder Lüge?
Das Problem mit höheren bzw. anderen Bewusstseinsformen ist, dass es uns nur selten gelingt, in einen Dialog mit diesen Wesen zu treten. Lediglich bei Delphinen, Schimpansen, Hunden und Papageien ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, einen ersten Dialog aufzunehmen. Am berühmtesten ist wohl der Graupapagei Alex, der über 100 Worte beherrschte und erstmals Einblick in tierisches Gefühlsleben lieferte. Und trotzdem bleibt stets ein Zweifel, da individuelles Bewusstsein nur vom Individuum selbst erlebt werden kann. Ein Außenstehender kann so nie mit Sicherheit sagen, ob ein Wesen nun Bewusstsein besitzt oder nur so tut. Wenn ich einen Computer darauf programmiere, dass er menschliche Emotionen zeigt, wird in seinem Inneren trotzdem kein Gefühl entstehen.
Indizien für ein Ich-Bewusstsein
Letztendlich können wir also nur auf Indiziensuche gehen und überlegen, was für Voraussetzungen nötig sind, um von individuellem Bewusstsein sprechen zu können. Zunächst gibt es da eine Reihe informationstechnischer Kriterien. Erstens muss das Wesen über Sinne verfügen um überhaupt Reize von außen wahrnehmen zu können. Zweitens benötigt es ein Gedächtnis, um die Sinneswahrnehmung mit Erfahrungswerten abgleichen und so bewerten zu können. Drittens ist ein System zur Informationsverarbeitung erforderlich, das logische Schlussfolgerungen ziehen kann. Beim biologischen Gehirn handelt es sich um hochvernetzte Nervenzellen, bei Computern um vernetzte logische Schaltkreise, letztendlich ist das also immer eine Vernetzung logischer Teilkomponenten. Und viertens sollte es nach außen in irgendeiner Form auch kommunizieren können und sei es nur, indem es Blumen wachsen lässt. Diese Kriterien sind die absolute Grundvoraussetzung aber noch kein echter Beleg für Bewusstsein, denn all diese Punkte werden auch von seelenlosen Computern und Robotern erfüllt. Was uns letztendlich von einem Computer unterscheidet, sind Emotionen. So folgt das fünfte Kriterium, dass unser Wesen auch Gefühle zeigen muss. Doch wie schon gesagt, Gefühle können auch vorgetäuscht werden.
Ohne Quanten kein Bewusstsein
Was also unterscheidet einen Computer von einem fühlenden Wesen? Wir Menschen besitzten ein eigenes Gefühlszentrum, das Limbische System. Sollen wir also bei Gaia nach einem Gefühlszentrum suchen? Benötigt unser Computer einfach nur einen Gefühlsprozessor? Sicher nicht. Geist ist keine Frage von logischen Komponenten sondern es geht ja um diesen Übergang zu einer metaphysischen Ebene. Solange wir es mit Systemen zu tun haben, deren Informationsverarbeitung deterministisch, logisch wie ein Uhrwerk abläuft, bewegen wir uns rein in der physischen Welt und somit ist da auch keine Chance für einen Übergang ins Metaphysische. Doch wie im Beitrag „Wie real ist unser Geist“ gezeigt, zählt unser Bewusstsein zur Metaphysik. Zwar können wir dieses Metaphysische nicht nachweisen, aber es gibt Möglichkeiten es auszuschließen. So wird ein Computer mit einem klassischen Prozessor für dieselbe Aufgabenstellung bei gleichen Rahmenbedingungen stets dasselbe Ergebnis liefern. Bei biologischen Systemen ist das anders. Sie sind zum Einen zu komplex, zu chaotisch, als dass alle Ausgangsparameter stets gleich sein können, zum anderen gibt es durchaus die Möglichkeit, dass nichtkausale Quanteneffekte ihr Handeln beeinflussen (wie das überhaupt möglich ist, folgt im Beitrag „Wie kann der Geist unseren Körper beeinflussen?“). So erhalten wir ein sechstes Kriterium, das besagt, die Informationsverarbeitung darf nicht rein deterministisch ablaufen, sondern muss Raum für Zufall oder Quanteneffekte bieten.
Selbsterkenntnis ist nur eine Option
In der Biologie wird vornehmlich die Fähigkeit zu reflektieren anhand der Selbsterkenntnis des eigenen Spiegelbilds festgemacht. Das ist sicher ein überzeugendes Kriterium, doch bereits bei Affen ist seine Aussagekraft fragwürdig, wie Versuche an Rhesusaffen zeigen. Und nur, weil ein Hund sein Spiegelbild nicht erkennt, ist das noch lange kein Beweis dafür, dass er sich seiner selbst nicht bewusst ist. Es bestätigt nur, dass Hunde andere Sinneswahrnehmungen haben als wir Menschen. Vielleicht würde er sich in einer Art Geruchsspiegel sofort selbst erkennen. Forscher vom Planet der Hunde müssten, wenn sie uns vor einen Geruchsspiegel stellen, analog davon ausgehen, dass wir Menschen über keine Selbsterkenntnis verfügen, da wir ja nicht in der Lage sind, unser eigenes Geruchsabbild zu erkennen. Umgekehrt ist es kein Problem, einen Roboter so zu programmieren, dass er sich in einem optischen aber auch in einem Geruchsspiegel selbst erkennt. Echte Selbsterkenntnis ist das dennoch nicht. Somit können wir dieses Kriterium nur bedingt in unseren Katalog aufnehmen, aber es darf kein Ausschlusskriterium sein. Da es bei Gaia sicher keinen geeigneten Spiegeltest gibt, sollten wir das Kriterium weiter fassen und nach Anzeichen für Selbstbewusstsein suchen.
Sieben Kriterien für Bewusstsein
Somit ergeben sich also folgende sieben Kriterien anhand derer wir abschätzen können, ob eine völlig andere Existenzform über ein eigenes Bewusstsein verfügen kann.
- Sinne zur Informationserfassung
- Informationsspeicher
- Vernetzte Informationsverarbeitung
- Informationsausgabe
- Emotionen
- Übergang zur Metaphysik
- Anzeichen für Selbstbewusstsein
Wie viel Bewusstsein besitzt ein Verein?
Probieren wir diesen Ansatz doch gleich einmal anhand von einem Beispiel aus. Könnte beispielsweise ein großer Sportverein über ein eigenes Bewusstsein verfügen? Nein, das klingt dann doch zu weit hergeholt. Aber egal, versuchen wir es trotzdem. Sinne zur Informationserfassung hat der Verein natürlich in Form seiner Mitglieder und Mitarbeiter sowie über die Kontaktformulare im Internet. Informationsspeicher gibt es ebenfalls genug, in all den Vereinsunterlagen, aber auch in Medien und ihren Archiven, die seit Gründung über den Verein berichten. Die Informationsverarbeitung obliegt natürlich dem Vereinsvorstand und seinen Gremien, sowie der Mitgliederversammlung. Bei der Informationsausgabe spielen nicht nur Pressemitteilungen sondern auch soziale Netzwerke, allen voran Facebook und Twitter sowie Medien mit ihren Redaktionen eine entscheidende Rolle. Beim Thema Emotionen ist ein Sportverein natürlich unumstritten führend. Da jubeln nicht nur die einzelnen Fans, sondern es kann auch schon mal sein, dass die Vereinsseele brodelt, dass es sogar zu Erbfeindschaften zu anderen Vereinen kommt. Doch bei der Metaphysik möchte man erst einmal abwinken. Aber es geht ja auch nicht um großartige spirituelle Erlebnisse, die ein Verein eröffnet, sondern nur darum, dass hier bewusste, emotionale Empfindungen stattfinden, die mit reiner Physik nicht erklärbar sind. Und da passiert bei einem Verein durchaus Erstaunliches.
Fans erreichen eine neue Bewusstseinsebene
Nehmen wir mal einen fiktiven Fußballfan der im realen Leben kurz vor der Scheidung steht und sich in therapeutischer Behandlung befindet. Seine privaten und finanziellen Probleme rauben ihm den Schlaf und die Lebensfreude. Der Therapeut schafft es auch nicht, ihn auf andere Gedanken zu bringen. So leidet seine berufliche Leistungsfähigkeit und sein gesamtes Denken wird von seinen Problemen dominiert. Doch wenn sein Fußballverein ein entscheidendes Spiel gewinnt, dann sind in diesem Moment all seine Sorgen vergessen und er jubelt und freut sich gemeinsam mit allen anderen zigtausend Vereinsfans. Und auch all denen geht es ähnlich und ihre sonst so dominanten Sorgen sind in dem Moment, in dem sie ganz im Verein aufgehen, wie weggeblasen. Es ist die Vernetzung dieser Individuen sowohl als Zuschauermenge als auch über die Medien, die eine völlig andere Form von Bewusstsein entstehen lässt, die nur wenig mit dem Bewusstsein der Einzelindividuen zu tun hat.
Selbstbewusste Vereine mit Persönlichkeit
Und unser Verein hat durchaus auch ein Selbstbewusstsein. So erkennen alle Individuen aus denen der Verein aufgebaut ist sofort, wenn ihr Verein durch Medien oder Promis geschmäht wird, was dank sozialer Netzwerke gleich mit einem heftigen Shitstorm beantwortet wird. Und blickt man mal auf unterschiedliche Vereine, so hat jeder ein anderes Selbstbewusstsein. Der Rekordmeister wird als dominant und überheblich empfunden, der Traditionsverein im unteren Tabellendrittel benimmt sich nicht nur auf dem Platz träge und lethargisch, wohingegen ein Aufsteiger frech und aggressiv auftritt und ein Abstiegskandidat samt Mannschaft und Fans lustlos und depressiv daher gekrochen kommt. So müssen wir also sehr wohl davon ausgehen, dass zumindest größere Vereine über ein individuelles Bewusstsein verfügen, das deutlich von den privaten Bewusstseinsebenen seiner Mitglieder und Fans abweicht.
Nicht nur Vereine haben Bewusstsein
Wenn also schon Vereine über eine Art Bewusstsein verfügen, dann kommen wir zu ähnlichen Ergebnissen bei anderen Gemeinschaften. Es gibt genügend Redewendungen, die auf diese Tatsache hinweisen. Da geht es um Jahrhunderte alte Familienfehden, im Internet haben wir es mit einer begeisterten Netzgemeinde zu tun und so manche Regierung hat sich schon den Volkszorn zugezogen. Natürlich stehen hinter all diesen Gemeinschaften bewusst erlebende Individuen und dennoch haben wir es mit einer höheren Bewusstseinsebene zu tun.
Wie viel Bewusstsein hat die Erde?
So lange Menschen an diesem Phänomen beteiligt sind, ist das noch nichts Außergewöhnliches. Doch wäre es auch denkbar, dass die Biosphäre der Erde ebenfalls ein bewusstes Wesen ist? Um dies festzustellen, wenden wir nun die sieben Bewusstseins-Kriterien auf die Gaia-Hypothese an. Zunächst einmal stellt sich die Frage, was genau ist Gaia überhaupt? Die zivilisierte Menschheit zähle ich explizit NICHT zu Gaia, obwohl wir natürlich zur Biosphäre gehören. Doch wir und unsere Nutztiere und Nutzpflanzen sind längst schon nicht mehr Teil der Natur, wir haben uns dank unserer Zivilisation komplett von ihrem Kreislauf und ihren Gesetzmäßigkeiten losgelöst. Es ist so, als würden sich zwei weitgehend getrennte Systeme unseren Planeten teilen, oder besser gesagt um seine Vorherrschaft ringen. Somit zähle ich nur die Teile der Biosphäre zu Gaia, die auch ohne die Segnungen der Zivilisation überlebensfähig sind. Hinzu kommen all die dynamischen Teile der Erde, die stark mit der Biosphäre wechselwirken. Das sind die obere Erdschicht, Flüsse und Seen, die Weltmeere und die Atmosphäre. Tiefer liegende Gesteinsschichten, menschliche Infrastruktur und Städte zähle ich nicht dazu, auch wenn sie durch Vulkanismus und Umweltverschmutzung Gaia stark beeinflussen.
Die Sinne und das Gedächtnis von Gaia
Was die Sinne von Gaia anbelangt, bestehen diese aus allen Tieren, Pflanzen und Mikroorganismen. Keines dieser Wesen rennt zu Gaia und beschwert sich über uns Menschen, doch ihr Verhalten ist eine direkte Reaktion auf unseren Umgang mit der Natur. Die dabei gesammelten Informationen gehen über das Gedächtnis der einzelnen Individuen deutlich hinaus. Dies kann in Form des artenspezifischen genetischen Codes erfolgen, eine andere Informationsspeicherung ist die Populationsverteilung der unterschiedlichen Arten. Ähnlich wie bei Daisyworld bildet die Anzahl der jeweiligen Lebensform sehr genau ab, in welchem Zustand sich Gaia gerade befindet. Auch die Atmosphäre, Gewässer und die oberen Bodenschichten speichern eine Menge Information in Form ihrer Ausdehnung, dem Anteil an Nähr- und Schadstoffen sowie die Verbreitung von Mikroorganismen.
Uralte Erinnerungen statt Luftverschmutzung
Andere Informationsspeicher, wie beispielsweise Fossilien sind zwar für Geologen höchst aufschlussreich, doch Gaia selbst kann sie nicht verwerten. Trotzdem spielt gerade im Fall der menschlichen Energieverschwendung die vor Jahrmillionen gespeicherte Biosphäre eine entscheidende Rolle. Denn ohne uns Menschen wäre das Kohlendioxid, das damals die Pflanzen aus der Atmosphäre gefiltert hatten, für immer verloren. Nun ist Kohlendioxyd für Pflanzen das, was Sauerstoff für uns Menschen ist. So zynisch es klingen mag, doch unser Hunger nach fossiler Energie ist in erdgeschichtlichen Dimensionen gedacht durchaus wünschenswert.
Der Biosphären-Computer
Bei der vernetzten Informationsverarbeitung wird es besonders spannend. Bei Daisyworld gibt es auf den ersten Blick keine Vernetzung, doch durch die Reflektionswirkung der einzelnen Blumen kommt es zu einer thermischen Rückkopplung, die eine simple Logikfunktion darstellt. In der Biosphäre gibt es unzählige Abhängigkeiten und Vernetzungen, wir haben es mit einer komplexen Logik wie bei einem Computer zu tun. Jeder Versuch, aktiv einzugreifen hat weitreichende, kaum vorhersehbare Folgen. Eingeschleppte Haustiere, wie dies in Australien mit Katzen und Schafen geschehen ist, stören das seit Jahrtausenden eingespielte Artengleichgewicht empfindlich. Eigentlich müsste man davon ausgehen, dass die Spezies Mensch durch ihr ungebremstes Wachstum und ihrem Hunger nach Ackerland und Weideflächen die Natur immer weiter zurückdrängt. Einmal vom Mensch eroberte Wildnis will er nun einmal nicht mehr aufgeben.
Gaias Reaktion: Zurückdrängen der Zivilisation
Betrachten wir also das vierte Kriterium, die Informationsausgabe, also die Reaktion Gaias. Und die reagiert in einer höchst effizienten Weise auf unsere Eingriffe. Ihre Populationen verschieben sich, eine vernetzte Rückkopplung auf klimatische Bedingungen findet statt. Seen veralgen, trocknen aus, Wald- und Buschbrände verändern in kürzester Zeit die Vegetation, es kommt zur Verwüstung und zum globalen Temperaturanstieg, der verstärkte Unwetterkatastrophen, Verschiebungen von Monsunregen, des Golfstroms und letztendlich ein weiteres Abtauen der Polkappen zur Folge hat. Es findet dadurch eine Verdrängung der Spezies Mensch aus nun unattraktiven Regionen, wie Wüsten, überfluteten Küstenregionen und großen Teilen unwirtschaftlich gewordener Nutzflächen statt. Auch Gaia leidet unter dieser Entwicklung, doch Wüsten, Küstengewässer, verlassene Dörfer und verwilderte Ackerflächen werden zwar in anderer Form als früher aber immerhin wieder von der Natur übernommen. So können wir derzeit eine der spannendsten Entwicklungen der Naturgeschichte beobachten. Obwohl es so viele Menschen wie nie zuvor auf diesem Planeten gibt, wird unsere Spezies immer erfolgreicher zurückgedrängt und auf Ballungszentren konzentriert, wo wir unter zum Teil unerträglichen Bedingungen dahinvegetieren, wohingegen weite Flächen von einer für uns Menschen unattraktiven Natur zurückerobert werden. So hilf- und wehrlos sich die Natur gegenüber uns Menschen auch geben mag, die Geschwindigkeit, Flexibilität und Cleverness mit der sie sich wehrt, kann es gut und gerne mit unseren schlauesten Strategen aufnehmen.
Gaias Emotionen reiner Antropomorphismus?
Doch was ist mit dem fünften Kriterium, den Emotionen? Natürlich verfügen höhere Tierarten über Emotionen, aber dass die Natur selbst über so etwas verfügt, ist doch eher unwahrscheinlich, oder vielleicht doch nicht? Schauen wir uns doch die Natur an einem tristen Novembertag an. Die Bäume verlieren ihre Blätter, viele Vögel ziehen weg und die, die bleiben, sitzen stumm und aufgeplustert in ihrem Versteck. Auch alle anderen Tiere ziehen sich zurück, bereiten sich auf den Winterschlaf oder die Winterruhe vor, es umfängt uns bei diesem Anblick eine tiefe Schwermut. Ganz anders an einem sonnigen Frühlingstag, überall blüht und gedeiht es, Vögel zwitschern, alle Tiere suchen sich Partner, zeugen Nachwuchs (was, wie wir wissen, durchaus Spaß machen kann), die Luft ist erfüllt vom Summen und Brummen der Insekten, Jungtiere spielen ausgelassen miteinander und auch uns ist es bei diesem Anblick zum Jubeln zumute. Die Skeptiker werden einwenden, dass wir Menschen unsere Gefühle in unzulässiger Weise auf die Natur übertragen, was von der Wissenschaft als Antropomorphismus abgelehnt wird.
Gaias Erbe: Herbstdepression und Frühlingsgefühle
Doch ganz das Gegenteil ist der Fall. Während die Jahreszeiten für uns Menschen aufgrund unserer zivilisatorischen Errungenschaften in Form von beheizten Häusern, Supermärkten und elektrischem Licht immer mehr an Bedeutung verlieren, sind sie für die Natur essenziell. Warum freuen wir uns also über einen sonnigen Frühlingstag, wo wir doch in der Wohnung, der U-Bahn und an unserem Arbeitsplatz kaum etwas davon spüren? Warum macht uns ein regnerischer Novembertrag depressiv, wo es doch in unseren Behausungen und Arbeitsstätten genauso warm und hell wie an einem Frühlingstag ist? Weil davon unser natürliches Erbe angesprochen wird. Es ist also nicht so, dass wir unsere Emotionen auf die Tierwelt übertragen, sondern umgekehrt, dass unsere tierischen Wurzeln hervorbrechen und uralte Emotionen hochkommen. Emotionen, die offensichtlich die gesamte belebte Natur an solchen Tagen durchdringt, Emotionen, die so stark sind, dass sie selbst vor denen nicht Halt machen, die sich schon vor Jahrtausenden von Gaia losgesagt haben.
Naturgeister und die Metaphysik
Nun zu unserem sechsten Kriterium, der Übergang zur Metaphysik. Wer würde es wagen, beim Zauber der Natur, all den Legenden von Naturgeistern, Meeresungeheuern und den Mythen, die sich um dunkle Wälder und tiefe Seen ranken, der Natur den Übergang zur Metaphysik absprechen zu wollen. Doch bleiben wir nüchtern, die Natur ist die Summe aller frei lebenden Tier- und Pflanzenarten. Viele höhere Tierarten besitzen ähnliche Hirnstrukturen wie wir Menschen. Darüber hinaus zeigen Versuche mit Delphinen, Krähen, Papageien und Affen, die ja alle Wildtiere sind, dass auch sie über ein Ich-Bewusstsein verfügen, was wir im Beitrag „Wie real ist unser Geist“ als nicht physikalisch erklärbar und somit der Metaphysik zugeordnet haben. Nachdem also wesentliche Teile aus denen die Natur aufgebaut ist, über einen solchen Übergang zur Metaphysik verfügen, ist dieser Zugang auch der Natur zuzusprechen.
Selbstbewusste Versenkung Venedigs
Anders ist es beim siebten Kriterium, den Anzeichen für Selbstbewusstsein. Nur weil sich eine Krähe ihrer selbst bewusst ist, bedeutet das nicht automatisch, dass auch Gaia über echte Selbsterkenntnis verfügt. Wenn wir mit einem Freund kommunizieren, kommunizieren wir ja auch nicht mit einzelnen Nervenzellen sondern mit seiner Gesamtheit, die ihn als Mensch ausmacht. Weiß die Natur, dass sie eine Einheit ist? Ist sich die Natur ihres Handelns im Kampf gegen die Zivilisation und den Menschen bewusst? So effizient auch die Maßnahmen sind, mit denen sie bis 2050 zwei Drittel der Menschheit in urbane Ballungszentren verdrängt haben wird, ist sie sich dessen wirklich bewusst? Macht sie sich morgens Gedanken, welche Maßnahmen sie im Lauf des Tages gegen die Reisbauern in der Provinz Shangdong ergreifen wird? Hat sie genaue Pläne, wie sie Venedig innerhalb der nächsten zweihundert Jahre von den Landkarten tilgen will? Ich denke, spätestens jetzt laufen wir Gefahr, tatsächlich in einen unzulässigen Antropomorphismus‘ zu verfallen.
Naturvölker als Dolmetscher mit Gaia
Um genaueres herauszufinden, müssten wir mit der Natur als Gesamtheit kommunizieren können. Doch wie kommuniziert man mit etwas so abstraktem, so gigantischem wie Gaia? Es ist sicher keine Lösung, in den Wald zu gehen, Bäume zu umarmen oder es dem heiligen Franziskus gleichzutun und den Vögeln zu predigen. Es gilt, die Sprache der Natur zu erlernen, eine Herausforderung, an der sich Wissenschaftler in ihren sterilen Labors wohl die Zähne ausbeißen werden und die wohl eher Naturvölker lösen können. Und es ist schon erstaunlich, mit wie viel Ehrerbietung sich diese Völker der Natur nähern und mit wie viel Dankbarkeit sie ihre Gaben annehmen. Es gibt kein Naturvolk, das nicht davon überzeugt ist, dass die Natur von Geistwesen beseelt ist. Wir empfinden das als naiv, aber wenn wir uns vor Augen führen, dass die Völker, die mit der Natur im Einklang leben, dort seit Menschengedenken Schutz, Nahrung und Heilmittel finden, während es uns trotz all unserer Technologien nicht gelingt, sie auch nur halbwegs zu beherrschen. Stattdessen werden wir von ihr immer weiter in Ballungsräume gedrängt. Ich zumindest habe den Eindruck, dass wohl eher wir, die modernen, zivilisierten Menschen im Umgang mit Gaia die Naiven sind.